Bhagavad Gītā – Die Stimme am Rande der Zeiten
Ein Essay über Krieg, Klarheit und das Handeln im Licht
Bevor Worte waren, war Klang. Und bevor Schrift kam, war Erinnerung. Die Mahābhārata ist nicht bloß ein Epos. Sie ist das Gedächtnis einer Welt, die noch im Rhythmus des Kosmos schwang. Sie stammt aus einer Zeit, als der Mensch nicht rechnete, sondern lauschte. Nicht analysierte, sondern antwortete. Und aus dieser Tiefe, aus dieser Überzeitlichkeit, spricht die Bhagavad Gītā, ein Juwel inmitten des großen Stroms. Man sagt, sie sei über fünftausend Jahre alt. Doch wer ihr lauscht, spürt: Sie ist viel älter. Sie ist nicht geschrieben worden, um gelesen zu werden. Sie wurde gesprochen, getragen, überliefert. Durch Stimmen, die noch Teil der göttlichen Ordnung waren. Erst als das Kālī Yuga begann, das Zeitalter des Eisernen, des Getrennten, des Vergessens, wurde sie niedergeschrieben. Denn der Mensch verlor die Fähigkeit, sich zu erinnern.
„śrūyate hi purā loke nāsty eṣā kṛtakaṁ kathā“
„Was in alten Zeiten gehört wurde, war keine Erfindung – es war Erinnerung.“(Mahābhārata, Einleitung)
Die Gītā ist keine Philosophie. Sie ist kein System. Sie ist ein Ruf. Gesprochen auf einem Schlachtfeld, am Vorabend einer Zerstörung, am Rande eines Bruchs. Arjuna steht zwischen zwei Heeren, außen tobt der Krieg, innen beginnt der Sturm. Und aus diesem Sturm, aus dieser Schwelle, spricht Kṛṣṇa. Nicht als Gott im Himmel, sondern als Wagenlenker. Als Stimme im Rücken. Als das, was man nur hört, wenn man still wird. Sie ist das Lied Gottes, ja. Aber gesungen nicht im Tempel, sondern im Staub. Zwischen Schrei und Zittern. Die Bhagavad Gītā ist die Stimme, die nicht moralisiert, sondern erinnert: Du bist nicht dieses Zittern. Du bist nicht diese Angst. Du bist Teil einer Ordnung, die Dich ruft. Und diese Ordnung will durch Dich handeln.
Die Gītā wurde nicht geschrieben für Friedenszeiten. Sie ist eine Schrift der Schwelle. Für Zeiten wie diese.
Kurukṣetra heißt das Feld der Kuru-Dynastie, ein realer Ort, ein spiritueller Raum, ein innerer Zustand. Es ist nicht nur Schlachtfeld im Äußeren, sondern Spiegel des Menschen in der Stunde der Wahrheit. Denn jedes große Ringen draußen beginnt mit einem Riss im Inneren. Und dort steht Arjuna. Nicht als Held. Sondern als Mensch.
„dṛṣṭvemaṁ sva-janaṁ kṛṣṇa yuyutsuṁ samupasthitam“
„Wenn ich meine Verwandten hier bereit sehe zum Kampf, o Kṛṣṇa…“(Bhagavad Gītā 1.28)
Er zittert. Die Knie versagen. Die Stimme bricht. Was er sieht, ist nicht der Feind, es ist das Unfassbare: Brüder gegen Brüder, Lehrer gegen Schüler, Freunde gegen Freunde. Die Welt, wie sie war, zerbricht. Und Arjuna, Träger von Kraft, Ausbildung, Mut: zerfällt. Weil das Alte nicht mehr trägt, aber das Neue noch nicht spricht. Genauso stehen wir heute. Der Weltkrieg rückt näher. Staaten bewaffnen sich, Bündnisse zerbrechen, Masken fallen. Doch tiefer liegt etwas Anderes: die innere Erschöpfung des Menschen. Die moralischen Ordnungen lösen sich. Die Wahrheiten tragen nicht mehr. Und zwischen den Lagern steht der Einzelne, wie Arjuna, und fragt: Was soll ich tun?
Die Bhagavad Gītā spricht genau in diesem Moment. Nicht vorher, nicht nachher. Ihre Wahrheit zündet nicht im Frieden, sondern in der Schwelle. Denn Spiritualität, die nicht auf dem Schlachtfeld entsteht, ist Flucht. Und Wahrheit, die keine Konsequenz trägt, bleibt Theorie.
„klaibyaṁ mā sma gamaḥ pārtha naitat tvayy upapadyate“
„Gib der Feigheit nicht nach, o Pārtha – das gehört nicht zu Dir.“(Bhagavad Gītā 2.3)
Kṛṣṇa ruft nicht zur Wut. Er ruft zur Klarheit. Er sagt nicht: Töte. Er sagt: Erkenne. Wer Du bist. Wo Du stehst. Und was durch Dich gewollt ist. Der Kampf, so lehrt er, ist nicht das Ziel, aber er ist das Tor. Und manchmal ist es Verrat, ihn zu verweigern. Kurukṣetra ist überall. In der Stadt. In der Familie. In der Seele. Und es fragt nicht: Bist Du gut? Sondern: Bist Du bereit?
Kṛṣṇa ist nicht Gott im theologischen Sinn. Er ist nicht Richter, nicht Drohender, nicht Fordernder. Er sitzt nicht auf einem Thron. Er steht hinter Arjuna. Auf dem Wagen. Mit den Zügeln in der Hand. Und doch spricht durch ihn der Ursprung selbst. Nicht als Macht, sondern als Klarheit.
„śrī-bhagavān uvāca“
„Der Erhabene sprach“(immer wieder)
Die Gītā ist einzigartig, weil Gott nicht als Mythos erscheint, sondern als Stimme inmitten der Handlung. Kṛṣṇa ist nicht der, der eingreift. Er ist der, der enthüllt. Er nimmt Arjuna nicht den Kampf ab. Er gibt ihm kein Gesetz. Er ruft ihn in die eigene Verantwortung.
„karmany evādhikāras te mā phaleṣu kadācana“
„Dein Recht liegt im Handeln – niemals in den Früchten.“(Bhagavad Gītā 2.47)
Hier offenbart sich das göttliche Prinzip: Nicht Kontrolle. Nicht Rückzug. Sondern Dienen. Kṛṣṇa lenkt, aber er bestimmt nicht. Er offenbart, aber er zwingt nicht. Er ist das Licht, das nicht blendet, sondern klärt.
Spiritualität heute flüchtet oft ins Oben. Ins Ferne. Ins Sanfte. Doch Kṛṣṇa zeigt: Das Göttliche sitzt mitten im Staub. Es schweigt nicht, aber es brüllt auch nicht. Es begleitet. Mit leuchtendem Ernst. Und fragt:
Was wirst Du tun, jetzt, wo Du gesehen hast?
Er ist der archetypische innere Führer, der Daimōn der Griechen, das höhere Selbst in der Psychologie, der Wagenlenker des Mythos. Er spricht nicht in Konzepten, sondern in Präsenz. Wer ihn hört, hat keine Ausrede mehr. Kṛṣṇa ist die Form, in der das Formlose sich neigt. Nicht um zu herrschen, sondern um zu leiten. In uns. Hinter uns. Im Zentrum des Feldes.
Der Mensch glaubt, er sei getrennt. Von der Welt. Von Gott. Vom Sinn. Doch manchmal zerreißt etwas in ihm. Und das, was verborgen war, zeigt sich. Nicht als Idee, sondern als Überwältigung. In der elften Lehre der Gītā bittet Arjuna: Zeige mir Deine wahre Gestalt, Kṛṣṇa. Und Kṛṣṇa zeigt: nicht als Mensch, nicht als Lehrer, sondern als viśvarūpa, der allumfassenden Form.
„paśya me pārtha rūpāṇi śataśo ’tha sahasraśaḥ
nānā-vidhāni divyāni nānā-varṇākṛtīni ca“„Sieh nun, o Pārtha, Meine Gestalten – hunderte, tausende, göttlich, verschieden in Farbe und Form.“
(Bhagavad Gītā 11.5)
Und Arjuna sieht. Die ganze Welt in einem Leib. Das Werden und Vergehen. Die Zeit, die alles verschlingt. Den Tod, der alles eint. Er sieht Sonne und Sterne, Götter und Dämonen, den Tanz der Schöpfung und den Mahlstrom des Untergangs, in einem Atemzug.
„kālo ’smi loka-kṣhaya-kṛt pravṛiddho“
„Ich bin die Zeit, die alles zerstört.“(Bhagavad Gītā 11.32)
Dies ist keine mystische Verzückung. Es ist kein Trost. Es ist das Schockbild der Wahrheit: Alles ist Eins. Alles ist vergänglich. Alles ist durchdrungen. Kein Ich bleibt. Kein Standpunkt. Kein Urteil. Arjuna bricht zusammen. Er fleht: Verzeih mir. Verbirg Dich wieder. Ich bin nicht bereit. Denn wer das Ganze sieht, verliert das Getrennte. Und wer das Getrennte verliert, muss neu geboren werden. Diese Vision ist der Kern der Gītā. Sie ist der Moment, in dem die alte Weltsicht stirbt. In dem der Mensch erkennt: Ich bin Teil. Ich bin getragen. Ich bin nicht Ursprung, aber durch mich will Ursprung handeln.
In unserer Zeit, die alles fragmentiert, alles vereinzelt, alles trennt, ist diese Vision revolutionär. Sie sagt: Du bist nicht allein. Aber Du bist verantwortlich.
Der Mensch fürchtet die Wirkung. Fürchtet das Scheitern, das Urteil, die Frucht. Und so zögert er, zaudert, zieht sich zurück oder handelt in Gier. Doch Kṛṣṇa spricht:
„karmany evādhikāras te mā phaleṣu kadācana
mā karma-phala-hetur bhūr mā te saṅgo ’stv akarmaṇi“„Dein Recht liegt im Handeln, niemals in der Frucht. Werde nicht zum Urheber der Frucht – doch meide auch das Nicht-Handeln.“
(Bhagavad Gītā 2.47)
Dies ist der Kern des Karma Yoga. Es ist keine Moral. Es ist keine Ethik. Es ist eine Ontologie. Der Mensch wird durch das, was er tut, nicht durch das, was er besitzt. Aber dieses Tun darf nicht vom Wollen befleckt sein. Nur der, der sich selbst loslässt im Dienst, handelt wahrhaft göttlich. Kṛṣṇa sagt nicht: Zieh Dich zurück. Er sagt: Wirke. Wirke mit ganzem Herzen. Mit ganzer Kraft. Aber gib die Frucht ab. Lass sie los. Denn die Wirkung gehört nicht Dir. Sie gehört dem Ganzen. Dies ist der Unterschied zwischen Bindung und Weihe. Zwischen Wunsch und Opfer. Der Mensch, der für sich kämpft, wird verzehrt. Der Mensch, der für das Ganze wirkt, wird zum Gefäß.
In unserer Zeit, wo alles Nutzen fragt, Effekt, Ertrag, ist dieses Prinzip revolutionär. Es sagt: Diene. Nicht aus Schwäche. Sondern aus Klarheit. Nicht aus Unterwerfung. Sondern aus Verbindung.
„yogaḥ karmasu kauśalam“
„Yoga ist Geschick im Handeln.“(Bhagavad Gītā 2.50)
Nicht Rückzug ist Spiritualität, sondern das Tun im Feuer. Nicht Meditation allein, sondern Arbeit im Lichte. Wer mit reinem Herzen wirkt, auch auf dem Schlachtfeld, wird nicht befleckt. Denn er ist nicht mehr Quelle. Sondern Durchgang.
So beginnt wahre Freiheit: Nicht durch Entsagung – sondern durch das Opfer des Anspruchs.
Wir leben im Kālī Yuga. Im dunklen Zeitalter. Im letzten Abschnitt des großen Zyklus. Es ist das Zeitalter des Eisens, der Entfremdung, des Streits. Alles Heilige wird verflacht. Alles Wahre wird verdreht. Die Zeichen stehen nicht auf Hoffnung, sondern auf Zersetzung.
„kālī-yuge dharmaṁ pāda-vikalaṁ“
„Im Kālī Yuga steht das Dharma nur noch auf einem Bein.“
Der Mensch verliert die Erinnerung. Nicht nur an Gott, sondern an sich selbst. Die innere Stimme wird leise. Die äußeren Stimmen werden laut. Der Schatten steigt auf. Und weil keiner mehr unterscheidet, wird das Dunkle zum Gesetz. Doch das Kālī Yuga ist nicht nur Verfall. Es ist auch Prüfung. Und Prüfung ist Möglichkeit. Denn gerade weil die Götter schweigen, muss der Mensch hören lernen. Gerade weil das Licht fern scheint, beginnt das eigene Feuer zu sprechen.
Die Gītā wurde für das Kālī Yuga bewahrt. Weil sie das Maß enthält. Nicht als Gebot, sondern als Richtung. Nicht als Sicherheit, sondern als Erinnerung.
„dharmasya tattvaṁ nihitaṁ guhāyāṁ mahājano yena gataḥ sa panthāḥ“
„Die Wahrheit des Dharma ist verborgen im Innersten – der Weg ist, wo die Großen gingen.“(Mahābhārata)
Jetzt ist nicht die Zeit der Theorie. Es ist die Zeit des Tuns. Nicht des Kämpfens gegen andere, sondern des Widerstehens gegen das eigene Vergessen. Wer im Kālī Yuga sein Innerstes aufrecht hält, wirkt mehr als hundert in goldenen Zeitaltern. Denn der Abstieg ist nicht das Ende. Er ist das Tor. Und die Dunkelheit ist nicht der Feind, sondern der Schleier vor dem Erwachen.
Am Ende des Dialogs, als Arjuna alles gehört hat, den Ruf zum Handeln, die Vision des Ganzen, die Lehre vom Opfer, die Wahrheit des Selbst, da fragt Kṛṣṇa nichts mehr. Er zwingt nicht. Er fordert nicht. Er sagt:
„vimṛśyaitad aśeṣeṇa yathecchasi tathā kuru“
„Erwäge dies vollständig – dann handle, wie es Dir entspricht.“(Bhagavad Gītā 18.63)
Dies ist das Geschenk des Göttlichen: die Freiheit. Der Mensch wird nicht gedrängt. Er wird gerufen und dann allein gelassen. Nicht in Kälte, sondern in Vertrauen. Denn wer gehört hat, weiß.
Und Arjuna?
Er antwortet:
„naṣṭo mohaḥ smṛtir labdhā“
„Meine Verwirrung ist vergangen, meine Erinnerung ist wiedergekehrt.“(Bhagavad Gītā 18.73)
smṛti, Erinnerung. Nicht im Sinne von Daten. Sondern im Sinne des inneren Wissens. Der geistigen Klarheit. Der Rückkehr zu dem, was schon immer da war. Arjuna steigt nicht aus dem Wagen. Er flieht nicht. Er kämpft. Nicht aus Zorn, sondern aus Klarheit.
Heute ist diese Stimme leise. Sie wird übertönt von Meinungen, Bildern, Algorithmen. Aber sie ist nicht tot. Sie spricht in Träumen. In Unruhe. In Sehnsucht. In dem Moment, wo Du spürst: Das, was ich tue, entspricht mir nicht. Spiritualität ist nicht Gefühl. Sie ist Standhaftigkeit. śraddhā, sagt die Gītā: der tiefe, stille Glaube. Nicht an ein Dogma. Sondern an den Klang der eigenen Seele im Strom des Ganzen.
Wer heute dem Ruf folgt, wird nicht gesehen. Nicht gelobt. Aber er wird getragen. Und durch ihn wird das Maß bewahrt.
Der Krieg wird kommen. Nicht nur draußen. Sondern in Dir.
Die Stimmen der Welt werden sich überbieten. Mit Angst. Mit Gebot. Mit Heilsversprechen. Und viele werden folgen. Aus Müdigkeit. Aus Wunsch nach Zugehörigkeit. Aus Verlust. Doch es wird einen leisen Strom geben. In Menschen, die erinnern. Nicht mit Worten. Sondern mit Stand. Sie werden nicht glänzen. Sie werden nicht rufen. Aber sie werden bleiben.
Und ihre Treue, zum Unsichtbaren, zum Maß, zur heiligen Ordnung, wird das neue Fundament sein.
Nicht laut. Nicht groß. Aber unerschütterlich.
Denn Kṛṣṇa kommt nicht als Lichtstrahl vom Himmel.
Er kommt als leise Klarheit im Inneren.
Und wer ihm folgt, wird nicht verschont.
Aber er wird getragen.
# the hierophant
Ein Buch entsteht im Raum zwischen Resonanz und Erinnerung.
Wenn Du das Projekt unterstützen und Teil der Bewegung werden möchtest, abonniere den Newsletter:



Ich musste erst einmal länger über deinen Post nachdenken.
Ich glaube, dass alles mit allem verbunden ist, im Kleinen wie im Großen. Wir alle sind Teile des Großen und Ganzen oder auch Gott. Doch wir sind nicht Gott. Wir sind wie Tropfen im Ozean, doch nicht der Ozean selbst. Aber wir sind miteinander verbunden und mit allem im Universum. Das ist für den Verstand sehr schwer zu greifen, da wir uns und alles um uns herum als Trennung erleben. Doch das ist nur eine Illusion. Wir sind über Energien, Schwingungen und Frequenzen verbunden und alles beeinflusst sich gegenseitig. Dazu kommen auch die Gesetze von Polarität und Rhythmus.
Und ja die Kriege um Aussen sind auch die Kriege in unserem Inneren.
Unser Inneres spiegelt sich im Aussen. Dazu kommt das kollektive Bewusstsein der gesamten Menschheit. Das kann sich meines Erachtens nur ändern, wenn eine kritische Masse der Menschheit es für sich ändert.
Die 1 Prozent der Menschheit, die fast alles steuert, was Menschen tun, glauben und denken sollen, kennen die Grsetze. Es ist an der Zeit, dass es der Rest der Menschheit auch versteht, damit man uns nicht mehr so manipulieren und kontrollieren kann. Natürlich versucht man das mit allen Mitteln zu verhindern.
Denn wenn wir erst einmal verstehen, dass ein Angriff auf andere immer auch ein Angriff auf uns ist, warum sollten wir uns dann bekämpfen?
Den Krieg wollen immer die, die ihn nicht austragen müssen.
Vielen Dank Andre.
Vielen Dank für deine Worte. Ja da magst du recht haben. Ich bin auch oft noch zu sehr im Verstand gefangen. Das wird mir einmal wieder klar.