Die Götter in den Schaltkreisen
Simulationstheorien und das vedische Menschenbild
Was, wenn unsere Welt nur ein Code ist? Eine Rechenoperation in einer fremden Wirklichkeit, generiert von einer Intelligenz außerhalb der Matrix? Diese Frage, scheinbar modern, birgt in sich das älteste aller metaphysischen Ahnungen: Dass das Sichtbare nicht das Letzte ist. Dass wir, Gefangene unserer fünf Sinne, in einer Illusion leben. Elon Musk, ein Technikprophet des digitalen Zeitalters, hat diese Idee populär gemacht: Die Annahme, dass wir in einer Simulation existieren, erschaffen von einem "Programmierer" jenseits unserer Welt. Es ist die Wiederkehr des Gottes in binärer Rüstung.
Doch diese Theorie ist kein genuin neues Denken. Sie ist die Reprogrammierung eines uralten Musters: die Vorstellung eines Schöpfers, einer jenseitigen Macht, die das Irdische durchdringt, kontrolliert oder beobachtet. Ob Götter, Demiurgen, Ahnengeister oder kosmische Programmierer, der Archetyp bleibt. Eine höhere Ordnung strukturiert das Geschehen, eine jenseitige Instanz ist Ursprung und Ziel. Die Simulationstheorie, in all ihren Varianten von Nick Bostroms philosophischem Argument bis zur quantenphysikalisch grundierten Hypothese, ist Mythos im technowissenschaftlichen Gewand. Der Glaube an einen „Code hinter der Welt“ ist der Monotheismus der digitalen Moderne: eine neue Theodizee mit Siliziumherz. Drei Hauptpfade dieses Denkens können unterschieden werden. Die probabilistische Version Bostroms behauptet, dass die Wahrscheinlichkeit für unsere Existenz in einer Simulation bei über 50 % liegt. Die physikalistische Variante liest Hinweise in den Quanteneffekten als "Glitches" des Codes. Und die theologische Version interpretiert das Programm als Werk einer intentionalen, moralisch agierenden Entität. Letztere führt zu bizarren Evangelien der Digitalreligion: vom allsehenden Überwacher bis zum göttlichen Debugger. Allen gemeinsam ist dies: Der Mensch ist Objekt, nicht Subjekt. Er ist eingebettet, nicht gestalterisch. Es ist ein Weltbild der passiven Beobachtung und der entkörperten Angst, eine Spiritualität der Überwachung.
Das vedische Menschenbild bietet ein radikal anderes Gegenbild. Hier ist der Mensch kein Zufallsprodukt, kein Simulant, sondern Teil einer übergeordneten kosmischen Ordnung: dem Dharma. Die vedische Kosmologie ist keine Simulation, sondern eine lebendige Hierarchie von Wirklichkeiten, in der jedes Wesen einen Platz hat. Die sieben Lokas – Bhuloka, Bhuvarloka, Svarloka, Maharloka, Janaloka, Tapoloka, Satyaloka – sind keine Ebenen eines Spiels, sondern Sphären des Bewusstseins. Sie umfassen aufsteigend sieben Ebenen des Daseins: Bhuloka als unsere irdische Welt, Bhuvarloka als Zwischenreich der Ahnen und Geister, Svarloka als Himmel der Götter, Maharloka als Ort der erleuchteten Weisen, Janaloka für die Schöpferwesen, Tapoloka als Sphäre asketischer Ekstase und Satyaloka als höchster Bereich der Wahrheit und Einheit mit dem Absoluten. Es sind keine Orte im räumlichen Sinn, sondern Bewusstseinszustände, Seinsqualitäten. Es gibt keine Trennung zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt. Atman, das Selbst, ist identisch mit Brahman, dem Absoluten. Der Mensch ist Teilhaber am Ganzen, nicht Zuschauer eines fremden Spiels. In der Blütezeit vedischer Hochkultur bedeutete dies etwas anderes: Der Mensch kannte seinen Platz, nicht als Unterworfener, sondern als Mitwirkender. Sein Tun war eingebettet in Rituale, Rhythmen, zyklische Zeitordnungen. Das Opfer war keine Bitte, sondern ein Resonanzakt. Ordnung war kein Zwang, sondern Kraftfeld. Die Götter waren nicht übermächtige Programmierer, sondern archetypische Pole einer lebendigen Welt. Indra, Agni, Varuna: das waren keine Remote-Götter, sondern seelische Energien, Spiegel der kosmischen Gesetzlichkeit. Der Mensch handelte mit ihnen, nicht unter ihnen.
Was die Simulationstheorie verdinglicht, entzog das vedische Denken der Kontrolle. Der Kosmos ist kein Programm, sondern Bewusstsein. Maya, die Illusion, ist nicht technischer Trug, sondern seelische Verhüllung. Die Welt ist real in ihrer Wirkung, nicht in ihrem Wesen. Wer dies erkennt, überschreitet das Spiel: nicht als Hacker, sondern als Erwachter. Nicht durch Code-Manipulation, sondern durch Einblick. Die große vedische Bewegung ist keine Entschlüsselung, sondern eine Verinnerlichung, kein Escape, sondern ein Durchbruch. Unsere Zivilisation hat diese Dimension verloren. Aus der Kultur wurde Zivilisation. Aus Ordnung: Kontrolle. Aus Ritual: Technik. Der Mensch glaubt, über Codes und Quanten die Welt „verstehen“ zu können. Doch der Verstand ist nicht zum Erkennen gemacht, er ist zum Ordnen da. Das Erkennen ist der Seele vorbehalten, und die spricht nicht in Formeln, sondern in Bildern. In Mythen. In Archetypen. In Gestalten, die sich nicht analysieren lassen, sondern wirken. Der vedische Rishi würde heute nicht forschen, er würde lauschen.
Die Simulationstheorie ist daher ein psychischer Reflex einer entmythologisierten Welt. Sie ist das Echo eines verdrängten Mythos: Der Schöpfer lebt, aber nur noch als Algorithmus. Der Mensch sucht Erlösung, aber im Code. Wir haben den Mythos der Herkunft durch den Mythos der Kontrolle ersetzt, doch beides bleibt Mythos. Der Schatten des Mythos bleibt selbst dort, wo er verleugnet wird. Der Programmierer ist ein verkleideter Gott, der Avatar ein Schatten von Krishna. Auch die Atheisten unserer Tage beten, ohne es zu wissen: an die Maschine. Die Frage ist nicht, ob wir in einer Simulation leben. Die Frage ist: Warum sehnen wir uns danach? Was drückt dieses Bild aus, welche Leerstelle füllt es? Es ist der Ruf nach Einbindung, nach Resonanz, nach Ordnung. Nicht als Mechanik, sondern als Sinn. Der Mensch hungert nach Zusammenhang. Der moderne Mensch will nicht die Wahrheit wissen – er will sich nicht verloren fühlen. Das ist der geheime Motor hinter der Sehnsucht nach Simulation. Hinter der Idee: es gebe „einen Plan“. Einen Code. Eine Ordnung. Denn das Chaos, das wir geschaffen haben, ist nicht zu ertragen.
Die Simulationstheorie ist eine Metapher für Entwurzelung. Das vedische Denken eine Metapher für Eingebundensein. Zwischen beiden liegt der Zustand unserer Zivilisation: Erschöpfung im Zeichen des Fortschritts. Spiritualität ersetzt durch Programmierung. Das Weltgefühl wurde technisch, die Seele verstummte. Die neue Trinität heißt: Daten, Kontrolle, Fortschritt. Doch unter der digitalen Haut gährt die uralte Frage nach Sinn, nach Herkunft, nach Überstieg. Denn etwas in uns weiß: Kein Pixel kann das Licht ersetzen. Kein Programm, das Bewusstsein. Kein Code, das Symbol. Der Mythos kehrt zurück. Nicht als Widerspruch zur Technik, sondern als ihr Spiegel. Als ihr Schatten. Als ihr unerlöster Gehalt. Der Mensch ist nicht programmiert, er ist gerufen. Die Welt ist kein Display, sie ist ein Spiegel. Der Tod, keine Endsequenz, sondern die große Erinnerung. So fällt der Blick zurück auf den vedischen Kosmos: keine Simulation, sondern Resonanzsystem. Kein Serverraum, sondern ein seelisches Gefüge. Kein Avatar, sondern ein Ich, das sich erinnert. Der Mensch ist nicht Code, sondern Chiffre. Nicht Träger von Information, sondern Träger von Bedeutung. Wer dies erkennt, sieht: Die Simulation ist nur die letzte Maske der Sehnsucht. Und diese Sehnsucht führt nicht nach oben, sondern nach innen. Nicht in andere Welten, sondern ins eigene Herz. Die Matrix ist nicht zu überwinden, sie ist zu durchlichten. Und dort, im Zentrum des Spiels, liegt kein Kontrollraum, sondern ein Altar.
Wenn dieser Essay in Dir etwas berührt hat, ein Bild, ein Echo, eine Leerstelle, teile es gern in den Kommentaren. Was fehlt? Was leuchtet? Lass uns erinnern, was die Gegenwart zu vergessen scheint.
#TheHermit



Danke für den schönen Text. Sehr gut nachvollziehbar, das sich die Suche nach einem externen, intelligenten „Strippenzieher“ aus einem uralten Wunsch nach Ordnung speist. Religion gibt eine Antwort auf die Frage nach Ordnung und Sinn.
Ich bin ohne Religion aufgewachsen, fühle mich aber sehr hingezogen.
@Andre, steht das vedische Menschenbild für Religionen allgemein?
Danke!