Im Anfang war kein Wort. Im Anfang war Raum. Ein Raum, der nicht leer war, sondern offen. Eine Welt, die noch nicht Besitz, sondern Möglichkeit war. Der Mensch kam nicht als Herr, sondern als Hörer. Und bevor er formte, lauschte er. Noch gab es kein Trennen, kein Zuweisen, kein Ich. Die Welt war atmende Gegenwart. Sie sprach nicht in Namen, sondern in Mustern. Und der Mensch antwortete mit Staunen. Er war Teil des Schwingens, nicht Beobachter. Doch bald wandte er sich ab. Aus Lauschen wurde Blick, aus Blick wurde Griff, und aus dem Griff: das Wort. Und mit dem Wort begann das Vergessen. Denn wer benennt, hat sich schon gelöst, hat sich gegenübergestellt, hat sich erhoben. Das erste Wort war nicht ein Zeichen der Verbindung. Es war ein Riss. Eine Zuweisung. Ein Zugriff.
In der isländischen Sprache gibt es ein Wort für diesen Prozess: landnám. Wörtlich: die „Landnahme“. Doch es ist mehr als Besitzergreifung. Es ist ein geistiger Akt. Ein magischer. Wer ein Land benennt, nimmt es sich nicht nur äußerlich. Er reißt es aus dem Strom der Unverfügbarkeit und bannt es in eine Ordnung, die ihm gehört. Landnám ist nicht nur der Anfang des Eigentums. Es ist der Beginn der Welt als etwas Benennbares. Etwas Abgetrenntes. Etwas, das nicht mehr atmet, sondern gehört. Was benannt ist, ist nicht mehr wild. Es ist gezähmt. Und was gezähmt ist, kann gefolgt, gemessen, verwaltet werden. So beginnt Geschichte nicht mit dem Pflug, sondern mit der Zunge. Wer benennt, beherrscht. Nicht weil das Wort die Sache ist, sondern weil es die Beziehung zur Sache umstößt. Der Baum wird nicht mehr als Wesen gesehen, sondern als “Baum” gesprochen. Und wo vorher ein leuchtendes Feld von Leben stand, bleibt eine Silbe. Ein Schatten.
So beginnt auch der Mythos der Eroberung nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Vokabular. Die Wikinger, die die Küsten des Nordens besiedelten, verteilten keine Flaggen. Sie verteilten Namen. Und wo ein Name stand, war das Unsichtbare gebannt. Landnám war ein Ritus der Verwandlung: aus Unverfügbarkeit wird Territorium. Aus Offenheit: Besitz.
Doch noch davor: Was war Welt, bevor sie benannt wurde? Vor jedem Wort lag das, was sich nicht sagen ließ. Ein Seinszustand, in dem das Innere nicht vom Äußeren getrennt war. Der Raum war nicht leer, er war Gegenwart. Nicht Inhalt, sondern Beziehung. In vielen Schöpfungsmythen steht am Anfang nicht der Logos, sondern das Chaos. Doch dieses Chaos war kein Wirrwarr. Es war die Potentialität des Ganzen. Eine vibrierende Tiefe, in der alles möglich war, aber nichts festgelegt. Welt war mehr Geschehen als Gestalt. Der Mensch war eingebettet, lauschte. Und war damit selbst Ausdruck. Welt war Resonanz. Diese Tiefe wurde mit dem ersten Begriff verlassen. Wer benennt, verlässt das Ganze. Und glaubt, in der Trennung Erkenntnis zu gewinnen. Doch was gewonnen wird, ist Kontrolle, nicht Verstehen. Der Mensch verliert die Welt, in dem Moment, in dem er sie “Welt” nennt. Er ersetzt sie durch Vorstellung. Was nicht mehr unmittelbar ist, wird funktional. Und was funktional ist, kann beherrscht werden.
Was außen begann, drang nach innen. Und wurde Gesetz. Landnám ist ein innerer Akt. Jeder Mensch ist von Geburt an ein Land, das noch nicht kartiert ist. Und indem er beginnt, sich selbst zu benennen: „Ich bin so“, “Ich bin dies nicht”, “Ich will…” – nimmt er Besitz von sich. Doch das ist kein Erwachen. Es ist ein Verlust. Denn was er dabei verliert, ist das namenlose Wissen, das tiefer liegt. Das Wissen um sich als Teil eines unbenannten Ganzen. Die Seele weiß, bevor der Verstand benennt. Doch mit jedem Begriff zieht sich das Seelische zurück. Es weicht dem Kategorischen. Dies ist die Kolonialisierung des Inneren durch Sprache. Die eigene Tiefe wird zur Karte gemacht. Gefühle werden zu Begriffen, Zustände zu Diagnosen, Seelenlandschaften zu Narrativen. Was nicht benennbar ist, gilt als irrational. Und so wird das Unaussprechliche, das in Wahrheit das Heiligste ist, verdrängt, besetzt, neu etikettiert. Der Mensch verliert den Zugang zu sich, indem er sich beschreibt. Und je weiter die Begriffe vordringen, desto weniger Raum bleibt für das Wesen.
Diese Landnahme verlangt Verwaltung. Wer benennt, muss ordnen. Was geordnet ist, muss festgehalten werden. So entsteht das Gesetz, das Kataster, die Karte. Und schließlich: die Institution. Die Ordnung wird zur Struktur, die Struktur zum System, das System zum Apparat. Und der Apparat vergisst, was er einst überwachen sollte. Die Sprache wird zum Mittel der Kontrolle. Das Heilige zum Paragrafen. Der Mensch zum Objekt seiner eigenen Benennung.
Kulturell gesehen zeigt sich Landnám in vielen Mythen und Epochen. In der Genesis etwa beginnt der Mensch, als ihm das Recht gegeben wird, den Tieren Namen zu geben. Es ist der erste Akt des Weltzugriffs. In der griechischen Mythologie wird der Kosmos geordnet, indem die Götter Reiche zugewiesen bekommen: Okeanos, Gaia, Uranos. Namen schaffen Herrschaft. Im Kolonialismus wurde das Land der „Anderen“ benannt, kartiert, in Besitz genommen, obwohl es bereits bewohnt war. Auch hier: Wer benennt, entreißt. Sogar die Aufklärung, so hoch sie sich rühmt, trug Landnám in sich. Die Welt sollte nicht mehr staunen lassen, sondern erklärbar werden. Jeder Himmel ein Gesetz, jedes Dunkel ein Defizit. Der Logos triumphierte über das Mysterium.
Der moderne Mensch lebt nicht in einer Welt. Er lebt in einem Raster aus Bezeichnungen. Aus Orten wurden Koordinaten, aus Wesen: Funktionen. Der Welt wurde das Gesicht ausgerechnet. Der Fluss ist kein lebendiges Band mehr, sondern eine Ressource. Der Berg ist keine Stille, sondern ein Messpunkt. Wir leben im Nachbild, nicht im Ursprung. Und so nimmt auch der Mythos Schaden. Denn der Mythos lebt nur in einer Welt, die nicht ganz benannt ist. In einer Welt, in der noch etwas rätselhaft bleibt. In der noch gefühlt werden darf, bevor es geklärt wird. Der Mythos atmet im Undefinierten. In der Lücke zwischen den Begriffen. Landnám aber füllt diese Lücke. Und macht aus dem Möglichen: Besitz. Aus dem Geheimnis: Eigentum.
Doch jeder Besitz will verteidigt werden. Und so beginnt die Geschichte der Gewalt. Denn was mein ist, muss abgegrenzt werden. Wer sich Land nimmt, muss Grenzen ziehen. Und wer Grenzen zieht, muss bereit sein, sie zu verteidigen. Landnám führt nicht nur zum Eigentum. Es führt zur Waffe. Die Verteidigung des Namens wird zum Kampf gegen das Andere. Das Fremde wird nicht mehr als Teil des Ganzen gesehen, sondern als Eindringling. Und so wird aus Sprache: Spaltung.
Der Weg zur Heilung liegt nicht im Verstummen, sondern im Erinnern. Im Rückschritt hinter das Wort. In der Rückkehr zur Empfindung, die nicht benennt, sondern bezeugt. Die nicht einteilt, sondern verbindet. Es braucht kein neues Land. Es braucht einen neuen Blick. Einen, der nicht fragt: „Wie heißt das?“, sondern: „Was spricht aus Dir?“ Denn was benannt wurde, ist nicht verloren. Aber es muss erlöst werden. Es muss neu angeschaut, neu empfunden werden. So wird Landnám nicht zur Sünde, sondern zum Aufruf. Nicht Besitz ist das Ziel, sondern Beziehung. Nicht Macht über das Land, sondern Einklang mit seinem Atem.
Der Mensch ist nicht der Herr der Welt. Er ist ihr Zeuge. Und vielleicht ist das letzte Wort, das wir sagen dürfen, bevor wir wieder still werden:
Danke.
#TheHermit
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Wenn du schreibst,dass aus Beziehungen Bezeichnungen werden (sinngemäß) Stelle ich mir vor,dass "Apfel" auch "das was meinen Hunger stillt " oder Baum "das was mir Schatten spendet" heißen könnte. Da wäre die Beziehung wieder im Fokus. So Stelle ich mir die Sprache der amerikanischen Ureinwohner vor. Kann es sein,dass die so etwas wie landnam nicht kannten ?
Der Text ist ein wundervoller Appell an Demut, Dankbarkeit und eine neue Haltung gegenüber der Welt. Er fordert den Menschen dazu auf, nicht überheblich aufzutreten, sondern als achtsamer Zeuge und Gast in der Welt zu leben. Am Ende zählt nicht, was wir besitzen oder beherrschen, sondern was wir verstanden, erlebt und gewürdigt haben – und vielleicht genügt dann ein einfaches „Danke“.